Angel…was?

Sandra/ September 14, 2021/ Allgemein

Wir sind, wie ihr wisst, eine 8-köpfige Familie. Vor etwas mehr als 3 Jahren wurde unser 5. Kind geboren, er ist ein Angel. Ihr fragt euch jetzt garantiert: „Was ist denn ein Angel?“. Genau diese Frage möchte ich gern beantworten.

Als „Angel“ bezeichnen meist Eltern ihre Kinder, die mit dem Angelman-Syndrom geboren wurden. Das ist ein seltener Gendefekt, der vom britischen Arzt Dr. Angelman entdeckt wurde, daher der Name. Etwa eins von 20.000 Kindern hat diesen Gendefekt. Das Syndrom ist sehr komplex und das Zusammenleben mit einem Angel sehr oft sehr herausfordernd. Doch fangen wir vorne an.

Bereits direkt nach seiner Geburt waren wir Eltern uns recht sicher, dass unser Sohn „irgendwas hat“. Anfangs war nur seine Zunge auffällig, die ständig aus dem Mund hing. Auch war er in den ersten Wochen noch völlig abwesend und gar nicht wirklich da. Wir wurden von den Ärzten beruhigt, das verwächst sich. Es sollte noch sehr lange so weitergehen, dass wir beruhigt und nicht ernst genommen wurden. Recht bald zeigten sich weitere Auffälligkeiten und die Diagnosesuche begann. So nahm er sehr schnell sehr viel zu, wog mit 7 Wochen schon 7 Kilo, mit einem halben Jahr waren es dann schon 13 Kilo. Er hatte immer wieder Probleme mit der Sauerstoffsättigung, einen recht starken Reflux, konnte erst mit 6 Monaten den Kopf überhaupt halten, war und ist stark Hypotonie. Wir waren uns sicher, seine Entwicklung ist verzögert. Auch hier wurden wir noch beruhigt, das käme vom hohen Gewicht. Unser Angel galt als stark adipös. Wir waren ständig im Krankenhaus, bei der Adipositassprechstunde, bei der Humangenetik. So langsam vermutete man doch ein Stoffwechselsyndrom. Alle Untersuchungen blieben erfolglos. Etwa mit einem 3/4 Jahr sprachen die erste Ärzte dann das erste Mal vorsichtig von einer Entwicklungsverzögerung.

Dann wurde unser Sohn ein Jahr alt und die sozialen Auffälligkeiten begannen. Im ersten Lebensjahr war er immer zufrieden, hat wirklich nie geweint. Nun begann er plötzlich alle Räder zu drehen, die er fand. Er hatte Angst vor allem, nichtmal spazieren oder einkaufen ging. Sobald er Stress hatte, bekam er Fieber und hat gespuckt. Autofahren war schon immer schwierig, wurde nun aber unmöglich. Somit kamen wir weg von den Stoffwechselsyndromen und bekamen die Diagnose Frühkindlicher Autismus. Alles passte perfekt zusammen, da Autismus in der Familie liegt. Mit dieser Diagnose lebten wir nun über ein Jahr und warteten auf die offizielle Testung. Nebenbei bekam unser Angel Logopädie, Frühförderung und Physiotherapie. Er lernte wenigstens kalten Brei zu essen. Die Motorik entwickelte sich nur sehr langsam, er konnte weder sitzen, noch krabbeln. Auch die Schlafstörungen, die uns seit seiner Geburt begleiten, blieben.

Dann kam ein Krankenhaustermin, der uns auf die richtige Spur brachte. Es wurde zum ersten Mal ein EEG gemacht, was eine große Herausforderung für alle Beteiligten bedeutete. Es zeigten sich die angelmantypischen Auffälligkeiten, die dritte genetische Untersuchung wurde eingeleitet. Wir haben natürlich gegoogelt und hatten sofort das Gefühl, da schreibt jemand über unser Kind. Es passte perfekt, bis zum extremen Kuschelbedürfnis und der absoluten Wasserliebe.
An dem Tag, an dem wir in den Urlaub aufbrachen, bekamen wir schließlich die Diagnose „Angelman-Syndrom“. Uns hat die Diagnose natürlich beschäftigt, schließlich war nun sicher, dass er ein Leben lang pflegebedürftig sein würde und immer körperlich und geistig behindert bleiben würde. Andererseits war es aber auch eine sehr große Erleichterung, da wir nun wissen, was er hat. Wir können ihn viel besser fördern, unterstützen, alles lesen, was wir darüber finden können. Wir wissen jetzt, dass der Reflux noch immer da ist und können etwas dagegen tun. Er hat nun einen Rollstuhl, der ihn soviel mehr an Selbstständigkeit ermöglicht. Er beginnt erste Gebärden zu nutzen, hat ein IPad, mit dem er beginnt zu kommunizieren. Er bekommt Orthesen und wird damit vielleicht lernen kurze Strecken zu laufen.

Das Leben mit einem Angel ist und bleibt aber eine große Herausforderung, die sich Außenstehende einfach nicht vorstellen können. Zum Angelman-Syndrom gehört auch Hyperaktivität. Zu den Lieblingsbeschäftigungen unseres Sohnes gehört ausräumen. Eine Phase, die bei Babys irgendwann vorbei geht, begleitet uns nun schon seit mindestens 2 Jahren, tagaus, tagein, von morgens bis abends. Und unser Angel wird größer, er kommt an immer mehr Dinge. Stühle haben wir irgendwann abgeschafft, wir essen jetzt wie in Asien auf Kissen auf dem Boden an einem niedrigen Tisch, denn klettern kann der Zwerg ganz prima. Mit dem Sprachverständnis sieht es eher mau aus, sprechen wird er nie. Ein vehementes „NEIN!!!“ unsererseits hält in etwa 5 Sekunden. Abgerundet wird das Ganze durch sehr herzliche Kuschelattacken. Unser Angel ist also ständig in Bewegung. Dreht man ihm kurz den Rücken zu, ist es nicht unwahrscheinlich, dass man ihn im Waschbecken sitzend unter dem Wasserhahn findet. Er findet, nächtliche Erholung ist völlig überbewertet, 3 Uhr ist die perfekte Aufstehzeit. Sein Schlafmuster kann an am besten in einem Wort beschreiben: chaotisch.

Und auf der anderen Seite gibt es dann aber auch einfach ganz viele tolle Momente. Menschen mit dem Angelman-Syndrom lachen ganz besonders viel und sind sehr oft fröhlich. Ein verschmitztes Lächeln und man kann einem Angel einfach nicht mehr böse sein. Über jeden noch so kleinen Fortschritt können wir uns unglaublich mit ihm freuen. Kurz und gut, er ist einfach ein ganz besonderer Mensch. Und so anstrengend es auch oft ist, missen möchten wir unseren Angel auf gar keinen Fall.